Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 135-136
„Den Mann in sich töten“
Aus Briefen von 1998

Lieber Freund,

Es muß jetzt wie immer alles ganz schnell gehen, weil ich erfahren habe, daß ich meine Post schon in den nächsten Tagen abgeben soll und sie dann gleich weitergeht. Eigentlich hatte ich ja auch ein Jahr Zeit gehabt dir zu schreiben - aber ich konnte mich die ganze Zeit nicht entscheiden, wie mit unserem "Scherbenhaufen" umzugehen sein könnte. Jetzt bleiben mir nur ein paar Stunden, und damit nicht genug. Meine Ausdrucksfähigkeit, die von vornherein nicht präzise war, hat unter der fremden Sprache schwer gelitten. In meinem ersten Guerillajahr ist natürlich noch viel anderes passiert, was mich vom Schreiben abgehalten hat. Die Anfangs-, Eingewöhnungsphase, damit gleich eine Operation, Winterstellungscamp. (...) Ich habe aber auch deshalb nicht geschrieben, weil mir die Basis unserer Beziehung nicht klar ist.(...)

...schrieb, daß du den Brief ... als eine Abrechnung mit dir empfunden hast, in der ich meine Rolle zu wenig hinterfrage. Das bedauere ich, falls so ein Eindruck entstanden ist, weil ich wohl versuche, daran zu arbeiten, was meine Rolle in der Beziehung war, also die alte Frauenrolle. Daß ich ausgerechnet dir davon schreibe, liegt vielleicht an der Zwickmühle unseres Verhältnisses überhaupt. Wo bist du Mann und Unterdrücker, und wo mein Freund und Genosse? Das war doch ein konstitutives Problem und blieb individuell, unorganisiert. Ich bedauere es auch, denn das überlagert den richtigen Inhalt. Ich weiß nicht, inwieweit das heute für dich eine Bedeutung hat, aber wenn du Revolutionär sein / werden willst, mußt du „von der Männlichkeit zurücktreten," so formulierte es der Vorsitzende der PKK. So wie wir EuropäerInnen von dieser Identität zurücktreten müssen! Du hast das nicht angegangen, sondern es nur als mangelndes Vertrauen gegen mich gedreht. Und wahrscheinlich stimmt das auch, daß ich meine Freiheit immer auf dich durchsetzen wollte, anstatt sie in eigenen Strukturen zu entwickeln. Alles der Ausdruck der Unorganisiertheit. Ich habe viel gelernt, gerade zu diesen Fragen. Ich denke heute über Spezialbeziehungen ganz anders nach. Sie sind ein Ausdruck des kleinbürgerlichen Freiheitsbegriffs, des Individualismus und eigentlich nur Werkzeug fürs Kapital. Damit will ich nicht sagen, daß es Gefühle nicht gebe, aber wo machen wir eine Kritik dieser Bedürfnisse und wo schaffen wir mit diesen Gefühlen andere freie Verhältnisse, arbeiten einen solchen Gegenentwurf praktisch? Weil das ja nichts ist, was einfach so - romantisch vom Himmel fällt. Der Vorsitzende sagt z.B. es geht um zwei Freiheiten und einen Sieg. Also eine Freiheit, freie Identität für Frauen, eine für Männer und den Sieg über den gemeinsamen Feind.(...)

Ich habe hier noch etwas gesehen und verstanden, was du zum Teil auch an mir kritisiertest - dieses "Totale" - die verbale Kompromißlosigkeit, die immer gleich die Verhältnisse abbricht, ist wenig nützlich für den Kampf, der ja aus Beziehungen von und zwischen Menschen besteht. Eigentlich entspringt die Kompromißlosigkeit der Hilflosigkeit, wie sich selbst und andere verändern? Sicher ist es nötig, dabei umsichtig und vorsichtig zu sein, um nicht liberal und opportunistisch zu werden. Aber eine stabil klar definierte Ebene ist ja Voraussetzung, um überhaupt zusammen handeln zu können. In dieser Richtung denke ich viel nach. Ich lerne hier auch den Klassenkampf kennen, wie er im Inneren geführt wird, als einen Moment, der die Hilflosigkeit nicht akzeptiert. Vor dem Hintergrund meiner eigenen "Klasse und Geschichte" lerne ich mich selber auch noch einmal anders verstehen, eigene Strukturen der Durchsetzung meiner Interessen, bzw. wie verhalte ich mich - da wird es eigentlich erst interessant - wenn ich auf Widerstand stoße. Opportunismus - Kapitulation - Diplomatie - Konfrontation - Krieg (Bitte ankreuzen!)...(...)

„Mein Lebenswille ist stark...“

Du hattest mal von Faszination gesprochen, im Zusammenhang mit Kriegführung der PKK, angesichts des türkischen Spezialkriegs und dich auf die Aktion von Zîlan bezogen. Ich war damals eher abgeschreckt, weil ich so ein Gefühl hatte, wir kämpfen doch für das Leben und nicht um zu sterben. Mittlerweile weiß ich, was die TC und die mit ihr Verbündeten so schockte: nicht nur, daß sie schon damit wußten, sie sind überall zu treffen, sondern daß das Vertrauen in den Sieg der PKK so groß und greifbar ist, selbst das eigene Leben dafür zu geben. Und dieses Vertrauen und Gewißheit kann noch ganz andere Kräfte freisetzen, die noch ganz andere Grenzen überwinden können. Der Vorsitzende nimmt Zîlan auch immer als Beispiel, als Linie für eine Frau, die sich befreien will. Das meint nicht, daß alle solche Aktionen machen sollen, sondern sich große Ziele im Kampf gesetzt werden sollen und nicht 24 Stunden am Tag einen Mann im Kopf zu haben...


Am 30 Juli 1996 sprengte sich Heval Zîlan (Zeyneb Kinaci) in Dersim während einer Militärparade selbst mit mehreren Kilo TNT. Dabei traf sie den Feind mitten ins Herz. Ihre Aktion war keine Verzweiflungstat, sondern hervorragend geplant und ausgeführt. "Mein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch ist ein erfülltes Leben durch eine große Aktion. Der Grund für diese Aktion ist meine Liebe zu den Menschen und zum Leben", schrieb sie in einer von drei Erklärungen an die YAJK, die Bevölkerung und den Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Heval Zîlans Erklärung ist heute für die PJKK ein Manifest. Der Name Zîlan steht für bedingungslose Freiheit.
Über die Aktion von Heval Zîlan ist eine Broschüre des freien Frauenbüros Kurdistan erschienen:"Zîlan, drei Frauen, drei Aktionen", September '97

TC = türkische Republik

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machwerk, frankfurt (2000)