Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 132-135
„Das Gelernte nach Europa zurücktragen“
Briefwechsel mit einer Frauengruppe

Brief an Andrea, 23.8.97

Liebe Freundin, wir hoffen du bist wohlauf und hast die Anstrengungen der letzten Wochen gut überstanden. Wir freuen uns, daß es uns jetzt möglich geworden ist, mit dir Kontakt aufzunehmen. (...) Dein Wunsch nach Austausch trifft auf Diskussionen und Auseinandersetzungen, die wir schon einige Zeit führen und wir hoffen, daß daraus etwas gemeinsames wird. Laß uns wissen, ob du und was du von hier erfahren möchtest. Wir werden uns bemühen, es Dir zukommen zu lassen. (...) wir haben großen Respekt vor Deiner Entscheidung, dich einer kämpfenden Bewegung anzuschließen. Unser Verhältnis zur Bewegung ist solidarisch, aber nicht unkritisch. Unser Ziel ist die Erweiterung des Dialogs zwischen deutschen und kurdischen Frauen, der hier schon ansatzweise geführt wird. Es wäre schön, wenn daraus perspektivisch ein gemeinsamer Kampf entstehen würde.
Weil es von Deiner Seite bisher wenig öffentliche Aussagen und noch nichts zu Deiner jetzigen Situation gibt, stellt sich für uns vorne weg die Frage, ob du Interesse hast, daß Teile dieses Austausches an die Öffentlichkeit gelangen. Es wäre für viele Leute sicherlich wichtig, auch von dir selbst etwas zu hören. Deswegen würden wir gerne erfahren, wie du als Feministin die Situation siehst und empfindest- auch im Hinblick auf Deinen Hintergrund und Deine Geschichte. Allgemeiner: Welche Diskussionen gibt es zur Frauenfrage, wie führen kämpfende Frauen diese Diskussion? Wie erleben Frauen, die neu zu euch kommen diesen Prozeß der Befreiung?
Natürlich gibt es schon viele Äußerungen zu diesen Fragen, aber weil wir dich schon lange kennen, sind uns Deine Einschätzungen näher und manche Frage stellt sich leichter. (...)
Wir grüßen dich und Deine Mitkämpferinnen und hoffen, daß auch sie Interesse an der Diskussion haben.


Antwort an die Frauengruppe

Liebe Freundinnen!
Vorneweg- ich habe euren Brief vom 23.8.97 Ende Januar 98 erhalten und hoffe, der Rückweg ist nicht wieder so lange. Trotzdem habe ich mich sehr darüber gefreut. Auch die Leitung der YAJK hat ihn gelesen und es ist noch nicht entschieden, ob nicht eine kleine Gruppe von Freundinnen euch zusätzlich antwortet. Ich muß gleich zu Anfang vielleicht erst einmal sagen, daß ich zwar momentan bei der Guerilla (ARGK) bin, mich aber ihr anzuschließen hieße, gar nicht mehr zurückzugehen. Ich begreife meine Zeit hier aber als eine Art Ausbildung/Schulung, Lernen. Ich meine nicht so wie der Feind, das meint militärische Ausbildung, sondern es ist ein Reinschauen und eine Idee davon kriegen, wie die PKK/ERNK/ARGK entstanden ist, wie sie funktioniert und aufgebaut ist. Es ist ein mich selbst schulen, in den schwierigen Lebensbedingungen nicht aufzugeben und gemeinsam mit den anderen Frauen das Leben und den Krieg zu meistern. Es ist auch ein mich selbst in der Kriegssituation neu kennenlernen.. (...)

Ihr fragt ja, was ich wissen will. Eigentlich alles, wer macht was? Also die Einzelnen, ich habe nichts gehört, seit über zwei Jahren, so kann ich es mir konkreter vorstellen, als in einer Einschätzung. Obwohl ich die auch wissen will. Wie steht es? Wen gibt es (noch/neu)? Wie sind unsere Kräfte? Was sind die Probleme? Wie schätzt ihr die Gefahr der Faschisten ein? Was sagt ihr zu den schriftlichen Äußerungen der RAF zu mir? Was sagt ihr überhaupt zu ihr? Wie stellt ihr Euch in der Zukunft eine Frauenkraft vor? Was sind ihre, oder hat sie keine Berührungspunkte mit den Männern? Wie seht ihr die alten Ansätze der Frauenorganisierung? Was waren die größten Fehler? Konkreter würde ich gerne wissen, was das Haus macht und die Einzelnen, ob es etwas neues zum Verfahren/ Doppelverfahren gegen mich gibt?(...)

Ich weiß gar nicht genau, was ihr damit meint, Hintergrund und Geschichte. Daß ich in Frauenzusammenhängen aktiv war und dann - so wird ja gesagt - "anti-imp" wurde. Damals 87 nach dem Knast stellte mir eine Freundin (..) die Frage: willst du Frauenkampf oder Front? Ich will und wollte immer beides. In der PKK finde ich das verwirklicht: also die Frauen und die Männer sind getrennt organisiert, aber sie führen zusammen den Krieg gegen den Feind. Das ist auch nichts starres, die kurdischen Männer sind eben auch Männer - sie akzeptieren das nicht einfach. Es ist ein ständiger Kampf. Sie geben uns Frauen die Schuld für alles mögliche, z.B. für die hohen Verluste bei der letzten Operation. Dabei sagen das dann ausgerechnet diejenigen Männer, die in der Koordination saßen und da so viele verheerende Fehler machten. Wenn es nicht klare Parteilinie wäre und insbesondere der Parteivorsitzende der Einhaltung soviel Wert beimäße, dann wäre die Frauenorganisation wahrscheinlich schon von den Anfeindungen zerfleischt. Ich persönlich empfinde die Trennung und auch das klare "Beziehungsverbot" als sehr angenehm. Ich konnte mich noch nie so frei bewegen im Verhältnis zu Männern, weil einfach klar ist, es gibt eine Grenze. Und wenn das ein Mann nicht akzeptiert, oder sich gegen Frauen verhält, hat das festgelegte Konsequenzen und ist nicht Aufgabe der einzelnen Frau. Dazu gehört auch die Thematisierung der eigenen Rolle.

Also, wieso sieht die Frau sich schwach und will sich einem Mann "an den Hals werfen", ihre alte Rolle spielen. Im Gegensatz dazu lernt sie in der PKK und insbesondere in der Guerilla eine neue Rolle, entdeckt ungeahnte Fähigkeiten und Stärken. Dafür müßt ihr wissen, daß die kurdische Frau, durch den Einfluß des Islam wirklich in der alten Gesellschaft für Küche und Kinder lebt. Frauen, die ich fragte, sagten z.B., in der Partei haben wir überhaupt erst denken gelernt. Ein Denken, was über den Tag - Was koche ich heute? - hinausgeht. Sich überhaupt zu interessieren. Früher war das aus dem Haus gehen oder mit Männern reden mit namussuz = Ehrlosigkeit verbunden und zog den entsprechenden Zorn nach sich. Für die Frauen permanenter Druck.

Ihr fragt, wie Frauen, die neu kommen das erleben? Sie müssen sich erstemal orientieren und verstehen vieles noch nicht. Regeln des "Armeelebens" z.B., daß du keine öffentlich sichtbare Wäsche aufhängst oder dir im Beisein von Männern die Socken ausziehst und die Füße wäscht. Nach und nach verstehen sie es, so wie es mir auch ging -und entfalten ihre Persönlichkeit. Das heißt allgemein, es ist keine theoretische Diskussion, sondern eine Praxis, ein Leben. Die Frauenfrage wird dadurch bearbeitet, wie die Guerilla strukturiert ist und kämpft. Das ist eine Entwicklung seit '93.

Vorher gab es die YAJK nicht und es nahmen nur sehr wenige Frauen an der Guerilla teil. Zu Anfang hatten die Frauen auch eine Tendenz, wie Männer zu sein, schnitten sich alle die Haare, schnürten sich die Brüste weg, aber sie haben erkannt, daß sie auch stark und weiblich sein können. Ich kann nur schwer darüber schreiben, wie kämpfende Frauen, die Diskussion führen. Sicher, es gibt manche, die das - Frauen als Organisation - ablehnen, aber eigentlich kämpfen alle darum. Es ist auch nicht das: Zuhause sind die Bedingungen so schlecht, daß sie doch lieber zur PKK gehen. Sicher sind die Bedingungen in manchen Teilen Kurdistans nicht gut, aber wenn du schaust, es gibt Frauen, die sind in Europa geboren und aufgewachsen, Frauen, die in den türkischen Metropolen Journalistinnen oder Ärztinnen waren, in syrischen Organisationen gearbeitet haben oder im iranischen Teil Politikerinnen waren. Und sie alle haben das gelassen, warum? Die Frauen, die aus den Dörfern in die Guerilla kommen, gibt es natürlich auch. So findet innerhalb der PKK nicht nur ein organisierter Geschlechterkampf, sondern auch ein Klassenkampf statt.

So wie das - ich weiß nicht, ob ihr das kennt - Kein Friede in ihrem Papier zur PKK - sagt, die Frauenfrage wäre ein Garant nach innen, für die Modernisierung, um sozusagen nicht klassischen M/L zu betreiben, ist das einfach nur Unsinn. Ich kenne - ohne jetzt Propaganda zu machen, keine andere Bewegung, die a) so undogmatisch ist, wie die PKK, obwohl sie durchaus autoritär ist, aber was gibt es autoritäreres als die Revolution?- und die b) die Frauenbefreiung wirklich umsetzt. (...)

So will ich den Brief mal als Anfang beenden. Schreibt doch mal, was ihr heute schon mit den kurdischen Frauen diskutiert und zusammen macht. Ich denke, daß langfristig eine Organisation oder Organisierung die in Deutschland lebenden Völker mit einbeziehen muß.

Ach so, fast hätte ich es vergessen, ihr fragt nach der persönlichen Komponente. Nein ich vermisse keine Beziehung. Nicht nur, weil dafür kein Raum ist, sondern auch, weil auch alle die Bedürfnisse, die bei uns künstlich auf die Liebesbeziehung projiziert werden, abgedeckt sind. Die Guerilla ist in mangas (6-10 Leute) aufgeteilt, die mangas (2-3) zu takims, usw. Da gibt es ein tägliches, kurzes Auswertungsplenum und bei Bedarf zu einem Thema eine Diskussion, d.h. Versammlung, sowieso 15-tägige Versammlungen, über das Leben und die Probleme, Einschätzung der Leitung, Beschwerden, Vorschläge, Kritik-Selbstkritik etc. Vielleicht hat es manchmal einen Hang zur Oberflächlichkeit, weil du mit vielen gleichzeitig relativ eng zusammen bist- und Spezialbeziehungen, z.B. zwischen zwei Freundinnen oder Kleinstgrüppchen werden auch sehr kritisiert- aber ich empfinde es als eine wirkliche Alternative.

So zum Schluß Euch alles Liebe, bis bald, mit revolutionären Grüßen, Ronahî
Ein PS. Folgt.

PS: In den Anfang 90er Jahren gab es eine Tendenz, daß viele Frauen aus den Serhil-dans = Volksaufständen zur Guerilla kamen und kommen wollten. Die Partei hat das als Anlaß genommen, die Frauenfrage neu zu entwickeln, mit entsprechenden Konsequenzen: die Trennung von Frauen und Männern, weil sie gesehen haben: im alten Gewaltverhältnis kann sich die Frau nicht befreien, solange der Mann da ist, der meint, alles besser zu können und ihr alles aus der Hand nehmen will. Zuvor waren z.B. in einer bölük nur drei Frauen, die lebten mit den Männern zusammen in einer manga.

Das andere ist, ihr schreibt in Eurem Brief, ihr seid zwar solidarisch, aber nicht unkritisch zur PKK. Sicher gibt es Fehler, die PKK ist nicht perfekt, aber sie arbeiten permanent daran, aus diesen Fehlern zu lernen. Schreibt doch mal, was Eure Kritik ist. Ich will hier keine Stellvertreterinnenausein-andersetzung führen, aber es würde mich wirklich interessieren. Ich weiß nur von mir selbst, als ich noch in Europa war, kannte ich die PKK eigentlich gar nicht, und die Auslandsvertretungen sind noch einmal etwas anderes als der Kampf im Land. Ich weiß, daß viele Linke davon abgeschreckt sind, daß die KurdInnen bei Demos ein Bild vom Parteivorsitzenden Abdullah Öcalan tragen, aber wenn du gesehen hast, was er für die Partei tut und bedeutet, wie weitsichtig, liebevoll und auch unnachgiebig er die Grundsätze verwirklicht, dann fängst du an, das zu verstehen. Er ist auch der erste Mann, den ich kenne, der seine Männlichkeit hinter sich gelassen hat und der die Befreiung der Frau wirklich will... Als z.B. bei einer Auswertungsversammlung über die letzte Operation Männer sagten, die YAJK wäre eine Diktatur, sagte er, wer Verrat an der YAJK begehen würde, begeht Verrat an ihm.

Ronahi


Brief von Servîn

Liebe Freundinnen,
Ronahî hat mir den Brief, den ihr im August '97 geschrieben habt, gezeigt und ich möchte euch kurz in Ergänzung zu ihrer Antwort einige meiner Gedanken schreiben. Im Gegensatz zu dem, was Ronahî schreibt, sehe ich diesen Schritt schon als "Anschluß" an die Bewegung. Jedoch bedeutet dies für mich nicht zwangsläufig, daß ich nie wieder zurückkommen werde. Auch mein Ziel ist es, das hier gelernte und Erlebte nach Europa zurückzutragen und mit Genossinnen zu teilen und nutzbar zu machen. Ich begreife es doch als Anschluß, da ich in der Ideologie der PKK und wie sie umgesetzt wird, meine Vorstellungen von dem, wie ein Befreiungskampf möglich ist, welche Schritte notwendig sind, welche Werte neu geschaffen werden müssen, mein Verständnis von Befreiung wiederfinden kann. Hierzu gehört zum Beispiel der Versuch, allen Menschen eine Entwicklungsmöglichkeit zu geben. Ihre alte Realität als Ausgangslage für einen Prozeß der Befreiung zu nehmen, anstatt wie bei uns üblich - nach dem fertigen revolutionären Subjekt Ausschau zu halten. Es geht hier vielmehr darum, das ganze Leben, die einzelnen Individuen dahingehend zu politisieren, daß tiefe Umbrüche in einer von Kolonialismus und Feudalismus geprägten, patriachale Gesellschaft möglich werden. Wir haben hier die Möglichkeit, diese Revolution kennenzulernen, ein Teil von ihr zu werden. Wir werden auch immer wieder aufgefordert, eine aktive Rolle zu spielen, d.h. unsere Erfahrungen und Kritiken mit einzubringen und zum Teil auch Verantwortung zu übernehmen.

Auch wenn es auf Grund unserer Herkunft von Seiten der Partei die Bemühungen gibt, das mit dem Krieg verbundene Risiko für uns so klein wie möglich zu halten, so zeigt die Realität doch, daß es im Krieg keinen sicheren Ort gibt und z.B. in Operationszeiten oder in kleineren Einheiten eine "Sonderbehandlung" sowieso nicht möglich ist. Also befolgen wir die gleichen Regeln und haben im Alltag die gleichen Lebens- und Kampfbedingungen, wie die anderen Freundinnen auch. Zumindest versuche ich das für mich durchzusetzen. Zu der Frage nach den "Neuen": Die in der Armee gültigen Regeln richten sich einerseits nach den Notwendigkeiten, die der Krieg diktiert, andererseits ist es der Versuch, die verschiedenen kurdischen Realitäten zu einem gemeinsamen Prozeß zusammenzufügen. Für eine aus Europa oder den türkischen Metropolen kommende Freundin werden die Regeln bezüglich des Aufhängens von Wäsche oder Füße waschen vielleicht zunächst als Einschränkung empfunden. Für aus traditionellen Verhältnissen kommende sind sie hingegen eine ihrem anerzogenen Schamgefühl entsprechende Selbstverständlichkeit. Für sie stellen vielmehr das Recht, eine eigene Meinung zu haben und aufgefordert zu sein sie zu äußern, Sport zu machen, oder sich Männern gegenüber als eigenständige, selbstbewußte Kämpferin zu bewegen, etwas Neues dar, was nicht immer einfach ist. Es verlangt ein hartes Stück Arbeit, den Einfluß der alten Werte und Normen auf die Persönlichkeit aufzuknacken. Die Regeln in der Partei und Armee zielen darauf ab, einen kollektiven Prozeß zu ermöglichen, in dem alle ihren Platz haben können, ohne sich vor den Kopf gestoßen zu fühlen. Zugleich wird so das Kennenlernen der Realitäten der anderen eingefordert. Das heißt der Blick über den eigen Tellerrand hinaus wird erweitert. Bis hierhin reicht das Papier. Ich schicke euch und allen anderen Genossinnen revolutionäre Grüße und wünsche euch fruchtbare Diskussionen, laßt uns daran teilhaben.
Servîn

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machwerk, frankfurt (2000)