Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 78-79
„Am Anfang war es uns eine Frage,
ob das Ganze länger als drei Monate besteht“

3 ½ Jahre Antifaschistisches/antirassistisches Notruf- und Infotelefon (24.10.1991 - 26.2.1995)

Auszüge dem Gründungspapier:

Einschätzung der Situation/Entwicklung:
In den letzten Monaten und Wochen haben wir eine Eskalation rassistischer Gewalt gegen Flüchtlinge in Heimen und ausländischen Leuten auf der Straße erlebt. Gezielte Mordanschläge, Brandstiftungen, Sturmangriffe auf Unterkünfte unter Beifall einer rassistischen Bevölkerung, Belästigung jeder Art, Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien. Das ist eine Seite.
Der institutionelle Rassismus bildet die andere Backe der Zange, die die Existenz ausländischer Leute in Deutschland erwürgt. Von oben nach unten setzt sich dieser institutionelle Rassismus auf allen Ebenen des Staates in immer neuen und verschärften Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen um. Getragen wird der Straßen- wie der staatliche Rassismus von einem starken rassistischen Grundkonsens in der Bevölkerung...
Diese Politik steht in keinem Verhältnis zu dem Anteil der internationalen Fluchtbewegung, die nach Europa kommt. Hauptsächlich betrifft es ohnehin arme Länder. Diese rassistische Politik steht insbesondere in keinem Verhältnis zu dem hier in den Metropolen angesammelten Reichtum, der ohne die weltweite kapitalistische Ausbeutung und die gezielte Verelendungspolitik im Trikont nicht denkbar wäre. Es ist eine Lüge, daß „das Boot voll“ sei....

„Lieber wir kriegen auf die Fresse als die ausländischen Leute“ das ist eine moralische Positon - sie geht von einer Verantwortung aus, die wir in dieser Situation haben. Notwendig ist der Aufbau einer radikalen, an die Wurzeln gehenden revolutionä-ren Bewegung, gegen institutionellen und Straßenrassismus....
Gerade in den letzten Wochen hat sich der Mangel einer realen Organisationsstruktur gezeigt. Trotzdem sind einige Aktionen, Demonstrationen, Nachtwachen, Kundgebungen etc. gelaufen. Das ist gut, aber auch selbstverständlich...

„Viel guter Wille, spontanes Engagement reicht nicht; das hebt die Vereinzelung, Unklarheit von Initiativen, Unverbindlichkeit von Plenas etc. nicht auf. Es braucht Anstrengung, die unmittelbare Notwendigkeit von antirassistischer Propaganda und Tat, materieller Hilfe und Schutz mit dem Aufbau einer politischen und organisatorischen Basisstruktur zu verbinden. Dadurch können die unmittelbaren Notwendigkeiten auch wirksamer angegangen werden.“
Warum Aufbau von unten? Im Stadtteil?
- direkte Hilfe, auch Schutz im Fall eines rassistischen Angriffs, der notwendigen Konfrontation bei Faschoansammlungen oder staatlichen Maßnahmen ist schneller und effektiver zu gewährleisten.
- es ist möglich, unorganisierte GenossInnen zu integrieren, was politischen Gruppen zwangsläufig schwerfällt.
- es geht um antirassistische Präsenz in der Öffentlichkeit. Da reicht das individuelle Verhalten nicht aus, auch antirassistische politische Mobilisierung braucht eine Basis. Politische Forderungen und Ziele - Bleiberecht etc.- müssen in der Bevölkerung durchgesetzt und „verankert“ werden, um koordiniert, aus gemeinsamen Diskussionen und einheitlich in der Stadt eine spürbare, bemerkbare und wirksame antirassistische Agitaion und Aktion herstellen zu können, Ansätze einer gemeinsamen Organisierung mit ausländischen Leuten möglich zu machen: Aus den bisherigen linksradikalen Strukturen ist eine materielle Hilfe und Unterstützung für die absehbar hunderten, tausenden von Flüchtlingen, die „abtauchen“ müssen/werden, nicht leistbar. Trotzdem werden wir Anstrengungen unternehmen müssen, diese Hilfe zu organisieren.

Dieses waren die Anfänge des antirassistischen Notruf- und Infotelefons und der Stadtteilgruppen. Das Notruftelefon war Alarm- und Infotelefon bei rassistischen Überfällen und Fascho-aufläufen. Es war für Flüchtlinge, Immigrant/innen, Antirassist/innen eine Möglichkeit, das radikale Spektrum zu informieren und zu alarmieren. Darin bestand die unmittelbare Verbindung zu den Stadtteilgruppen: sie konnten dort anrufen und Vorgänge melden; umgekehrt konnten sie alarmiert werden.

„Hoyerswerda ist der bisher spektakulärste Ausdruck einer seit 1974 in Gang gesetzten und geschürten Entwicklung. Vom Anwerbestopp und dem Wiedereinreiseverbot von 500.000 ArbeitsmigrantInnen 1974...über die Abschiebeaktionen Lummers 1981, die Einschränkung der Asylgründe durch deutsche Gerichte, Angriffe auf Flüchtlingsheime Ende der 70iger Jahre, bis zu den Angriffen heute. Das Ganze hat eine Entwicklung losgetreten, die nicht so schnell vorbei sein wird. Die Rassisten und Faschisten haben Mut gefaßt: auf den Strassen, an den Stammtischen, in den Fabriken und Büros, in den Behörden und Ministerien. Von der materiellen Auswirkung, Durchschlagskraft und methodischen Perfidie ist der institutionelle Rassismus der relevanteste. Jede staatliche Maßnahme gegen Flüchtlinge, jede Diskriminierung gegen ImmigrantInnen auf der Arbeit, bei der Wohnungssuche, auf Behörden, durch die Bullen legitimiert den Strassenterror und alltäglichen Rassismus... Deswegen: Es ist unsere Existenz und Zukunft, die aller Menschen. Ja klar, insbesondere für uns in Deutschland ist antirassistischer Kampf eine Frage der grundsätzlichen politischen Existenz. Ohne hier, jetzt in dieser Situation, eine eindeutige Haltung und Praxis zu finden, werden Diskussionen, Pläne und Träume revolutionärer Politik belanglos bleiben.“

Mit diesem ARBO-Papier (antirassistische/antifaschistische Basisorganisierung), an dem Andrea mitgearbeitet hat, fing alles an. Naja ganz so einfach war es nicht, aber wir versuchten uns daran zu orientieren. Es gab am Anfang 10 Stadtteilgruppen, das Telefon konnte so besetzt werden, wie es auch der Vorstellung entsprach, die ganze Woche von 17:00 Uhr bis morgens um 7:00 Uhr und am Wochenende rund um die Uhr.
Wir waren bald Ansprechpartner für viele in Deutschland, angefangen bei anderen Basisinitiativen, bis hin zu großen Tageszeitungen. Die rassistische Stimmung ging in dem Tempo weiter, wie sie auch begonnen hat. Die Morde in Solingen und das Pogrom in Mannheim waren darin Eckpfeiler.

“Wir vom antirassistischen Notruftelefon haben gestern zusammen mit anderen Organisationen und Gruppen aus der Umgebung eine Demo in Lampertheim gemacht. Dort sind in der Nacht zuvor drei Menschen bei einem faschistischen Überfall in ihrer Wohnung ermordet worden. Das Flüchtlingsheim ist total ausgebrannt gewesen. Die Medien und die Bullen verzögerten jede klare Aussage. Ein Feuerwehrmann gab uns jedoch Auskunft. Wir gehen sicher davon aus, daß es ein Überfall war. Dafür sprechen die Hetzparolen an der Hauswand, der Benzingeruch im Haus und die Tatsache, daß das Feuer in der Nähe des Hintereinganges über das Treppenhaus kam. Wir hatten nur 24 Stunden Zeit für die Mobilisierung, es waren trotzdem viele Leute gekommen, aber es war so hilflos, vor diesem ausgebrannten Haus zu stehen und zu wissen, wir sind zu spät“ (aus dem Tagesprotokoll der Telefonschicht)
Erst ein Jahr später, nach intensiver Recherche, wurde vom Landeskriminalamt endlich ein faschistischer Hintergrund eingeräumt.

22.11.91: die Wahlkampfveranstaltung der NPD in Frankfurt wurde durch die Alarmketten der Stadtteilstruktur verhindert.

22.8.92: Das Notruftelefon übernimmt die Mobilisierung und Koordination gegen die faschistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen. Dort belagerten „deutsche Bürger“ und Faschisten wochenlang das Stadtviertel, um ausländische Menschen zu vertreiben.

1993: Der Artikel 16 des Grundgesetzes auf Asyl wurde abgeschafft. Gegen die rassistische Politik mobilisierten wir nach Bonn.

Oktober 1993: Zwei Jahre Telefon. Auf einer Veranstaltung stellten wir unsere Arbeit vor, machten eine Einschätzung unserer bisherigen Arbeit und erweiterten uns, weil einige Gruppen sich anschlossen.

Bis dahin hatte sich das Telefon zu einer stabilen, wie auch wichtigen und ernstzunehmenden Instanz entwickelt. Oft war es nicht einfach, die 120 Menschen zu koordinieren, die sich am Telefon organisiert hatten.
Dazu lief parallel die Organisierung der Stadtteilgruppen. Diese arbeiteten öfters unterschiedlich. Das lag daran, in welchen Stadtteil du wohntest und wer sich in deiner Gruppe organisierte. Es wurde einiges aus diesen Gruppen heraus organisiert, z.b. Denkmäler gesetzt, Kundgebungen organisiert, Flugblätter geschrieben, Wandbilder gemalt, Stadtteilrundgänge, Informationsstände organisiert... aber wir fuhren auch zu Alarmen zusammen und verhielten uns gegen rassistischen Übergriffe.

Aber, wie so oft, gewöhnten sich viele an die reaktionären Veränderungen und unsere Struktur begann aufzuweichen. Es kamen nicht mehr alle auf die Vollversammlungen, es fielen des öfteren Schichten aus und wir mobilisierten auch nicht mehr nach draußen, durch Plakataktionen, Flugblätter etc.
Auch eine interne Umfrage, die Andrea mitentwickelt hatte, brachte nicht mehr den Kick für eine Umstrukturierung.

1995: Am 29.1.1995 beschließt die letzte Vollversammlung, die Telefonstruktur aufzulösen und das Telefon zu schließen. Ende Februar wurde die Arbeit eingestellt.


Die antirassistische/antifaschistische Stadtteilgruppe Gutleut auf Patroille

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machwerk, frankfurt (2000)