Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 140-142
„Melde mich aus einer anderen Welt...“
Brief vom 17.2.1998

Hallo Ihr,

es gäbe viel zu sagen. Über den Krieg, was ich alles erlebt und gesehen habe, wie die Landschaften sind - wie dieses Wunder der Natur - wie ich lebe in der Frauenarmee, über die Partei an sich ... Ich habe versucht mich auf die Frage einer Organisation bei uns konzentriert, weil das ein Weg für die Zukunft für uns ist/sein kann. Ich hatte schon ziemlich viel dazu geschrieben, als ich die erste Post bekam, nach fast einem Jahr. (...)

Hier machen sie in den Schulungen Dialoge mit einzelnen. Das hat den Vorteil, daß man zu einer Frage tief diskutieren kann, aber nicht nur zu zweit ist, weil alle zuhören. Auch die ganze Persönlichkeit der Angesprochenen wird mitanalysiert. Nicht nur ihre Praxis oder ihr theoretisches Wissen. Eine Art Laborsituation, in der das Material die realen Personen sind. Die angesprochene Person steht auf. Sie ist auch räumlich in einer Art Bühnensituation, in der sie sich selbst noch einmal anders erfährt und überprüfen kann. Sie lernt, sich selbst als Produkt der Umstände zu begreifen und nicht als einzelnes losgelöstes Individuum. Sie lernt, sich der eigenen Wirklichkeit nicht zu schämen. Das ist eine Intensive Methode, auch für diejenigen, die zuhören. Sie haben eine gewisse Distanz zu der Diskussion und können sich dadurch leichter dazu verhalten, sei es daß das sie sich darin wiederfinden, sei es daß sie sich davon abgrenzen/unterscheiden. In diesem Sinne ist der schriftliche Dialog zwischen uns, den die anderen mitverfolgen oder sich auch einschalten können, eine gute Möglichkeit.(...)

Melde mich aus einer anderen Welt, nach einem Abstand zu der eurigen. Wie geht es euch? Was macht ihr? Wie ist die Lage? Was hat sich getan? Wie überlegt ihr?

Seit über einem Jahr höre ich von Europa/Deutschland nichts mehr, von unregelmäßigen Radio-Nachrichten mal abgesehen. Melde mich aus einer anderen Welt, von der der PKK-Vorsitzende mir sagte: “Bei uns benutzen wir noch Maultiere, während bei euch auf dem höchsten Stand der Technik Maschinen eingesetzt werden. Aber: ganz oben, ganz unten ist der Kern identisch: die Menschlichkeit ist ausgelöscht, der Mensch ganz leer ...”

Lerne viel in diesem Jahr in der Frauenarmee der PKK in den Bergen des “Wilden Kurdistans”. Wir besteigen steilste Gipfel, suchen im Schnee, im Regen, im Sturm, in der prallen Sonne Brennholz, melken Ziegen, reiten auf Eseln. Ich habe gelernt, 20 Stunden an einem Stück zu marschieren, im Dreck, im Schlamm, im Stein mit fast nichts zu überleben. Das Letzte zu Teilen, immer wieder die eigenen Grenzen des nicht mehr könnens, nicht mehr wollens zu überwinden. Ich habe auch einige Waffen kennengelernt - Kalaschnikow, M16, BKC, Bizwing, Karnas. Bemühe mich, die Kriegsstrategie und Taktik zu durchschauen. Habe die Grausamkeiten des Feindes gesehen, Operationen, Luftangriffe, Offensiven. Den Mut und Großmut der KämpferInnen, Verletzte, Gefallene, die Verwobenheit im Volk ...

Ihr wollt sicher wissen, wie ich das alles bewerte, aber ich tue mich schwer mit einer Beurteilung. Ich versuche so durch die Zeit zu gehen, zu verstehen, warum sie was wie machen und nicht eine deutsche Meßlatte anzulegen.

(...) Was ich von der PKK verstanden habe, d.h. das “alte” kurdische Volk zu sehen und was und mit welchen Methoden die PKK erreicht hat. Ich sehe es so, daß im Aufbau einer umfassenden Organisation für uns eine große Chance liegt, wo wir frühere Fehler wettmachen können. Z.B. um die einzelnen Grüppchen, das Potential an Menschen, die etwas verändern wollen, was es heute quer durch die Gesellschaft gibt, zu bündeln. Aus der Vogelperspektive betrachtet ist es paradox, wie viele “kleine Kreise” und einzelne sich allein fühlen. “Allein” sind sie nur dadurch, daß sie nichts voneinander wissen, zusammenkommen und zusammenwirken können. Die Wirkung aber wäre gewiß, denn eigentlich gibt es einen mannigfaltigen Reichtum an Aus-probiertem, Erreichtem und Erfahrungen. Nur systematisch auswerten und anwenden tut sie niemand. Mittels einer Organisation kann aus der Geschichte produktiv gelernt werden. Sie stellt durch Methoden und Grundsätze Kriterien auf, an die sich alle halten und an denen sich alle orientieren können. Zur Zeit legt sich jede ihre eigenen Kriterien fest und handelt danach, wie ihr “der Sinn steht” und dieser steht meistens auf: die eigenen Bequemlichkeiten, Egoismen und Privilegien nicht antasten, die vom Kapital produzierten Bedürfnisse ausleben. Konsum - Individualität - Liebesbeziehungen. Falsche Sicherheiten und irrationale Ängste...

Es ist sicher ein mühsamer Weg dahin. Wie kann man z.B. all die Menschen finden, die etwas verändern wollen und die weit versprengt sind? D.h. nicht auf die klassischen linken Strukturen, sofern sie überhaupt noch da sind - von Frauenzusammenhängen, Antifa, Antiimps, "Dritte Welt-Gruppen" und Autonome, etc. reduziert sind. In der Gesellschaft arbeiten zum Teil radikale Kräfte, die den Imperialismus, aus dem was sie konkret machen, auf den Punkt bringen, aber isoliert voneinander bleiben sie schwach.

(...) Ich denke, daß es für eine Organisation notwendig ist, Frauen und Männer zu trennen. Frauen können sich in gemischten Strukturen nicht entwickeln. Das ist für mich eine zentrale Erfahrung aus der ganzen Zeit, seit ich weg bin, geworden. "Initiative abgeben" als Stichwort. Das heißt aber nicht, daß wir nicht in einer Organisation sein können, wo wir Frauen in eigenen Strukturen sind und das Verhältnis, das Zusammentreffen/arbeiten mit den Männern der Organisation klar festgelegt und Teil der konzeptionellen Grundlage werden. Für Typen, die sich dagegen verhalten, muß ein Maßnahmenkatalog aufgestellt werden. Wenn wir an diesem Punkt nichts neues schaffen, wird es nur eine Wiederholung und Enttäuschung der Erfahrung, daß wir nichts eigenes produziert haben und uns aus der alten Konditionierung nicht gelöst haben. Trotz behaupteter Befreiung, trotz des ehrlichen abgrundtiefen Hasses auf den Feind und die eigene Verwobenheit damit, lebt genau diese Logik in uns und unseren Strukturen weiter.(...)

Gerade wenn wir über eine Organisation diskutieren ist es hilfreich, sich die Politik der KPD noch einmal anzuschauen, die letztlich trotz Millionen von Mitgliedern den Nazis das Feld überlassen hat. Zu der Defensiven Haltung im Moment von höchster Gefahr führte die Trennung von politischer und militärischer Kraft; die nicht hinterfragbare Führung entschied sich - obwohl die Basis zu den Waffen greifen wollte - für eine Bündnispolitik. Aus der Vorstellung, daß der äußere Feind besiegt werden müßte und dann der "neue Mensch" geschaffen werde könnte, gab es folgerichtige Dringlichkeiten sowie eine starre Hierarchie. Man muß sich die Dimension dieser Haltung klarmachen, das unangetastete kleinbürgerliche Leben - vor allem an der Geschlechterfrage sichtbar - führte zum zweiten Weltkrieg, zur Vernichtung von über 10 Millionen Menschen und zur Ausrottung jeglicher sozialistischer Wurzeln in Deutschland. Da, wo der "neue Mensch" proklamiert wurde, im Real-Sozialismus, blieb er nur eine Behauptung - von oben verordnet.
Die ganze defensive Haltung der friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus führte nach innen zum Status halten und zum Stillstand. Und wenn die Art und Weise wie produziert wird gleich bleibt, verhindert auch die Verstaatlichung der Betriebe keinen Kapitalismus. Allerdings ein Staatskapitalismus, der im Wettbewerb mit dem Westen nur verlieren kann.

Wir können uns auch gerne neuere Organisa-tionsversuche anschauen, die BO z.B. Sie haben, obwohl sie eigentlich eine revolutionäre wollten, eine antifaschistische gegründet. Aus dieser Unklarheit waren sie weder in der Lage noch darauf vorbereitet, den Angriffen des Staates stand zu halten. Dieser hatte die Möglichkeit einer revolutionären Organisierung sofort gewittert. Sie haben einfach kapituliert.

Eigentlich haben sie - sehr formal - losgelöst von der Politik die sie machen wollten, sich an den Strukturen und dem Aufbau - wer ist wo/wie delegiert - festgebissen. Die selbst gewählte Anlehnung an die KPD der 20er Jahre - sie benutzen z.B. deren Plakatmotive - hat darin ironischerweise eine Parallele oder die RaLi - Radikale Linke - ein Sammelsurium verschiedenster ex-KBWlerInnen, Ökolinken, DKP, SDAJ, etc. das aber ohne politische Linie und Führung. Zu Debattierzirkeln wurden diejenigen, die Führung hätten sein können, die aus den revolutionären Prozeß kamen, sind vor lauter Selbstzweifel in die Rolle der Humanisten geschlüpft, und waren so liberal, daß sie im pluralistischen Einerlei untergegangen sind ...

BO =Bundesweite Organisation (der Antifa)

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machwerk, frankfurt (2000)