Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 89-92
Zu „Weiterstadt“ und anderen Lügen
Brief von Andrea, Juli 1996


„... wir können entweder sterben, buchstäblich als volk und möglicherweise als ganzer planet, oder wir können der sich häutenden schlange gleich zu bewußten zeugen des todes der existierenden kultur werden und uns mit der strahlend neuen haut identifizieren, die sich unter der oberfläche des alten zu zeigen beginnt ...“
(aus: mythen, musen und tarnt, von vicki noble)

mein name ist andrea wolf. ich werde wegen des sprengstoffanschlags der RAF auf den knastbau in weiterstadt gesucht. im november letzten jahres wurde deswegen haftbefehl gegen mich erlassen, obwohl dem staatsschutz bekannt ist, dass ich damit nichts zu tun habe. ich war zu dem zeitpunkt weder illegal noch bei der RAF, sondern auf reisen in lateinamerika. ich lebe jetzt allerdings seit einem jahr in der illegali-tät, weil sich meine mögliche verhaftung bereits im sommer 95 abzeichnete. das ermittlungsverfahren bedroht mich als teil der linksradikalen opposition, in der ich seit 15 jahren aktiv bin. konkret heißt das zum beispiel, daß ich teil der häuserbewegung anfang der 80er war, in infoladenstrukturen und in der anti-waa-bewegung organisiert war, daß ich in frauenzusammenhängen und im antirassistischen und antifaschistischen info- und notruftelefon frankfurt am main mitgearbeitet habe oder in einzelnen mobili-sierungen wie im hungerstreik der politischen gefangenen 1989 aktiv war.

als mitte der 80er die hoffnung auf eine grundsätzliche veränderung der machtver-hältnisse, die an unsere kämpfe geknüpft war, immer schmaler wurde, habe ich, wie viele andere auch, versucht, revolutionären kampf neu zu bestimmen. nach wie vor geht es um eine fundamentale opposition. die frage ist nur das „wie“. nach wie vor ist das interesse des staates, das zu bekämpfen und zu verhindern.
in meinem fall konnten sich bundeskriminal-amt (bka) und bundesanwaltschaft (baw) zunutze machen, dass ich monate nach bad kleinen das motorrad des steinmetz von seiner wohngemeinschaft gekauft hatte. (steinmetz ist der agent des verfassungsschutzes, der im juni 93 die sicherheitsbehörden nach bad kleinen führte, wo birgit hogefeld verhaftet und wolfgang grams erschossen wurde.) der kauf war ein großer fehler, an dem motorrad und den dazugehörenden koffern wird das ganze verfahren gegen mich aufgehängt und eine beteiligung von mir an der knastsprengung in weiterstadt konstruiert. mein denken damals, dass so ein motorrad keine rolle spielen wird, weil der v-mann sowieso das blaue vom himmel runter lügen wird, wie die behörden es wollen, um damit weiter ermitteln und kriminalisieren zu können, macht nur deutlich, daß ich noch gar nicht begriffen hatte, was eigentlich passiert war.

ich kannte steinmetz knapp über ein jahr, wovon ich drei monate in lateinamerika war. kennengelernt hatte ich ihn im rahmen der vorbereitungen gegen den weltwirtschafts-gipfel, der im juli 92 in münchen stattfand. gegen den gipfel der reichsten der welt wurde nicht nur eine großdemonstration mit über 25.000 teilnehmerInnen organisiert, sondern auch ein gegenkongreß mit beteiligung von vertreterInnen aus nationale befreiungsbewe-gungen weltweit. mein kontakt zu steinmetz war von anfang an ein politischer, wo es um „fragen und diskussion des kampfes“, um grundsätzliche veränderung der machtverhältnisse ging. obwohl mir seine tour als unbehagen irgendwie aufstieß, konnte ich ihn nicht wirklich durchschauen und identifizieren. er setzte z.b., psychologisch präpariert von seinen v-mann-führern, oft pures vs-wissen anstelle von eigener meinung und diskussion. frauen gegenüber mimte er den aufmerksamen und mitdenkenden, und meinungsverschiedenheiten unter gruppen und einzelnen, nach denen er sich immer wieder erkundigte, benutzte er, um sich darin sicher bewegen zu können und die leute voneinander getrennt zu halten.

RAF, 29.11.96
...verunsichert sein sollen alle, die irgendwann auch nur in der nähe von steinmetz gewesen sind.
sie behaupten, daß legale den sprengstoff in einem motorradkoffer für uns transportiert hätten. das ist so unwahr wie unrealistisch. die tatsache, dass unser kommando gut 11 tonnen sprengstoff in weiterstadt benutzte - was heute eigentlich uninteressant ist - zeigt aber, wie absurd die geschichte ist. natürlich weiß der staat, daß die von ihm angegebene, wesentlich geringere menge quatsch ist. aber selbst um diese zu transportieren, würde uns besseres einfallen, als „szene“- motorräder zu benutzen. diesen unsinn, den die baw und das bka behaupten, soll die verfolgung einer genossin wegen der angeblichen beteiligung an weiterstadt ermöglichen. soweit also alles normal- könnte man meinen. das spezielle an dieser geschichte ist aber, dass der vs über seinen spitzel steinmetz und dessen beziehung zu andrea wolf explizit weiss, daß sie absolut nichts mit dieser aktion in weiterstadt zu tun hat...

es gab keine irgendwie gearteten aktionen von mir mit steinmetz. die bezeichnung „freundin“ in den medien soll mich als frau demütigen und mein handeln und denken entpolitisieren: die frau ohne eigenen willen, als anhängsel des (v)-mannes, war überall dabei, dann wieder suggeriert es, der vs-agent wäre eben schon auf die „richtigen“ angesetzt gewesen ...

im zuge der ermittlungen wurde mein wohnort, das teilbesetzte haus und wohnprojekt, fritzlarer straße in frankfurt am main, wo 16 erwachsene und zwei kinder seit jahren zusammenleben, ständig terrorisiert und immer wieder von sonderkommandos der polizei durchsucht. eine frau ist zusammen mit ihrem sohn mittlerweile ausgezogen. im juli 1995 nach der dritten hausdurchsuchung war die situation für mich nicht mehr überschau- oder einschätzbar. ich war zusammen mit fünf anderen aus meiner wohngemeinschaft zeugin in dem o.g. verfahren gegen unbekannt geladen. gleichzeitig war im durchsuchungsbeschluss zu lesen gewesen, dass ich ja den weiterstadt-sprengstoff transportiert haben könnte. ein nahtloser übergang von der beuge- zur u-haft war zu befürchten. so entschied ich mich wegzugehen, um aus sicherer entfernung zu beobachten, was weiter passiert. es kann auch sein, dass nur der eindruck erweckt werden sollte, dass meine verhaftung unmittelbar bevorsteht. unter einem solchen druck, spekulierte der staats-schutz möglicherweise, würde ich dazu gebracht, neue fehler zu machen, die er für die verfolgung nicht nur von mir, sondern auch von anderen benutzen könnte. d.h. aber umgekehrt nicht, dass nichts passiert wäre, wenn ich zuhause geblieben wäre.

ende november 95 konnte ich der presse entnehmen, dass haftbefehl gegen mich erlassen worden war. ausserdem wurden sechs meiner mitbe-wohnerInnen erneut als zeugInnen geladen, diesmal um gegen mich auszusagen. vier von ihnen sassen bis zu fünf mona-ten in beugehaft, weil sie sich weigerten, mit der politischen justiz zusammenzuarbeiten.

ich kam kaum dazu zu realisieren, was ein haftbefehl bedeutet, als ein freund am 6.12.95 an einem deutsch-österreichischen grenzübergang kurzfristig festgenommen wurde. bei ihm wurden ausser diskussionsmate-rial persönliche briefe von mir gefunden. als folge davon wird ein neues verfahren gegen mich eingeleitet wegen mit-gliedschaft in einer terroristischen vereinigung. in dem beschluss des bundesgerichts-hofs dazu werden einzelne wörter aus dem zusammenhang gerissen und mit füllwörtern aufgepeppt, so wieder zusammengesetzt, dass sich ein neuer sinn ergibt. hatte ich in einem brief über meine ent-scheidung, weggegangen zu sein, geschrieben: „... ich bin froh, nicht mehr abzuwarten, sondern zu handeln.“

die verdrehung der baw endete in der kern-aussage, daß ich in einem pkk-ausbildungs-lager sei und mit einer unbekannten gruppe zurückkehren wollen würde, um den bewaffneten kampf aufzunehmen. aufgrund dieser behauptung wird nicht nur gegen mich ein neues verfahren eingeleitet, auch gegen ... wird wegen unterstützung dieser angeblichen terroristischen vereinigung als „kurier“ ermittelt, weil bei ihm die briefe gefunden wurden.

die gefundenen diskussionspapiere setzten sich unter anderem mit dem zustand der linken insgesamt, ihren fehlern und derzeitigen möglichkeiten auseinander. alles drehte sich um die suche nach einer neuen perspektive des kampfes, nach ideen und impulsen auch ausserhalb der eurozentristischen realität. die linke in den reichen industriezentren hat sich aus ihrer teilhabe an der macht nicht wirklich befreien können, hat diese reproduziert und sich letztlich selbst gestoppt. deshalb ist zentrales thema für mich, wo was gelernt werden könnte, um aus der verwobenheit wirklich rauszukommen. das ist der hintergrund, vor dem die pkk erwähnt wird, als einer der befreiungsprozesse in der heutigen zeit, der ständig anwächst. die pkk hat es geschafft, von einer kleinen isolierten guerillagruppe, die im august 84 den bewaffneten kampf aufnahm, zu einer grossen breiten volksbewegung zu werden. in ihr organisieren sich frauen zu eigenständigen fraueneinheiten, eine reine frauenarmee wird angestrebt. dieser innerhalb der organisation respektierte raum und gewollte schritt ist ein ausdruck davon, dass die pkk es ernst meint, wenn sie sagt, dass es ohne die befreiung der frau eine befreiung nicht nur des kurdischen volkes nicht geben kann. es wäre spannend und interessant kennenzulernen, wie das alles in der realität aussieht. um schiessen zu lernen jedenfalls braucht niemand nach kurdistan zu gehen.

unter dem titel „hilflos vor dem terror“ bereitet der spiegel (13/96) auf, wie die informationen aus den sicherheitsbehörden gelesen werden sollen: die bevölkerung in deutschland soll nicht angst haben vor massenentlassungen, dem atommüll, der dramatischen wirtschaftlichen situation, nicht vor der änderung erkämpfter rechte, nicht vor dem polizeiterror und den korrupten eliten, nein vor der pkk. „... die das land bedrohen und terrorisieren und sogar mit deutschen terroristen zusammenarbeiten würde ... auch die wegen des sprengstoffanschlags auf die jva weiterstadt mit haftbefehl gesuchte andrea wolf halte sich, so mutmaßt das bka, in einem camp der guerilla auf.“

den paranoiden hirnen des über 20 jahre hochgezüchteten staatsschutzes entspringt die phantasie einer „neuen terroristischen vereinigung“ a la RAF, die ich gründen wollen würde, weil in den siebzigern spätere RAF-leute in palästina militärische ausbil-dungen machten, kann es nur das sein. die reaktion spricht eine deutliche sprache: es ist die drohung, wer den gedanken an widerstand nicht aufgibt, wird mit dem, seit der zerschlagung der arbeiterbewegung immer weiter perfektionierten, deutschen polizei-apparat eingekreist, isoliert und bis zur vernichtung gejagt werden. nur 24 stunden nach der grenzkontrolle wird meine wg zum fünften mal durchsucht. (...) zwei neue 129a-verfahren werden eingeleitet, und in der presse wird gegen die pkk gehetzt.

in den von mir verfassten briefen geht es um meine situation in der illegalität. so wie ich es mitkriege, ist das immer noch ein tabu-thema in der linken, obwohl viele der von den aktuellen verfahren bedrohten untertauchen mussten. ich mache selbst die erfah-rung, wie schwierig es ist, den kontakt und die diskussion unter den gegebenen umständen aufrechtzuerhalten. der staat weiss, daß es in der illegalität ohne anbindung an eine organisation oder politische perspektive nur die alternative gibt, aufzugeben oder auszuwandern. deshalb setzt er alles daran, die verbindung und den kontakt der linken zu den illegalen zu verhindern. punktuell ist das auch gelungen, wenn man sich anschaut, wieviele menschen aus den 80er jahren heute noch illegal leben, an die sich kaum jemand mehr erinnert bzw. von denen fast niemand etwas weiss. ich kriege erst jetzt so langsam eine vorstellung davon, was es für die zigtausende flüchtlinge in deutschland bedeutet, tag für tag ohne papiere und ohne status ums überleben zu kämpfen. und dabei habe ich noch das „privileg“, weiss zu sein.

ich bin überrascht, wie liebevoll und offen ich überall aufgenommen werde. allen, auch zu hause, möchte ich für ihre solidarität danken. diese solidarität ist wie eine welle, die mich trägt. ich hoffe, alle, die in der gleichen situation sind, erleben das genauso. euch möchte ich sagen, dass meine gedanken und meine liebe euch begleiten, egal wo auch immer ihr sein mögt!
ich rufe hiermit alle fortschrittlichen menschen, auch in den medien, auf, sich an den verdrehungen und der hetze nicht zu beteiligen. die geheimdienstoperation um steinmetz herum muss komplett offengelegt werden.
die verfolgung von mir, meiner wohngemein-schaft und der linken muss aufhören!
schluss mit all den aktuell laufenden politischen verfahren.

weg mit den haftbefehlen und der beugehaft (ermittelt werden muss beim verfassungs-schutz und in der regierung).

statt dessen sollte endlich das pkk-verbot aufgehoben, die militärhilfe für die türkei eingestellt werden, die politischen gefangenen freigelassen und die menschenverachtende asylpraxis gestoppt werden.

für unser recht auf leben als menschen und frauen.

freiheit und glück

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machwerk, frankfurt (2000)